Noch immer gilt es, zwischen den Fluten von Microbrands die Perlen zu finden. Wer das klassische Design der 1950er Jahre mag und schätzt, sollte – genau wie ich – einen Blick auf Vintro werfen. Die junge deutsche Marke hat eine Nische im Uhrenmarkt besetzt und mit dem Modell Le Mans 1952 einen mechanischen Rennsport-Chrono im klassischen Retro-Design auf die Beine gestellt. Der Markenname „Vintro“ ist passend dazu auch eine Kombination aus „Vintage“ und „Retro“.
In der Microbrand-Range unter 1.000 Euro sind Chronographen meist nicht vertreten, wenn handelt es sich um Quarzuhren, nicht aber eine Automatik. In diesem Fall kommt allerdings ein optisch schönes und zuverlässiges Uhrwerk im klassischen Gewand zum Einsatz: Das Seagull ST 1940. Tatsächlich basiert das Uhrwerk, das von der chinesischen Fabrik Tianjin Seagull produziert wird, auf einem hochwertigen Schweizer Uhrwerk, dem Venus 175. Wie ist das aber in China gelandet? Nun, Ende der 1950er Jahre wollte die Fabrique d’Ebauches Vénus S.A. das Lieferprogramm etwas verschlanken und zudem Liquidität zum Bau neuer Werke generieren. Nachdem die Sowjetunion kein Interesse an den Maschinen geäußert hatte, kam China in Frage. Tianjin-Seagull ist tatsächlich kein kleiner Hersteller, sondern der größte Produzent mechanischer Uhrwerke in der Welt. Mehr als 3.000 Menschen arbeiten für den Betrieb.
Neues Leben für das Venus 175
1963 nahm man in Tianjin den Bau des Venus 175 auf, zunächst exklusiv für Uhren, die der Luftwaffe Chinas vorbehalten waren. Erst 2001 erschien eine neue Version auf dem Markt, das Seagull ST19. Es entspricht in der Architektur dem Venus-Werk, wurde jedoch an die Zeit angepasst und mit einer höheren Schwingfrequenz von 21.600 A/h versehen, sowie mit mehr Lagersteinen als damals üblich. Und trotz der Grundkonstruktion, die 70 Jahre alt ist, erfüllt das Uhrwerk auch heute noch alle Ansprüche an ein mechanisches Werk. Besonders macht es vor allem das Schaltrad, das in jüngeren Konstruktionen durch eine preiswerter zu fertigende Kulissenschaltung abgelöst wurde.
Das ST1940 setzt noch eins drauf und macht aus dem Handaufzug-Chronographen ein Automatikwerk. Dazu wurde die Chronographenbrücke vergrößert und beherbergt nun auch ein Wechsel- sowie ein Reduktionsrad. Damit kann der kugelgelagerte Rotor direkt auf das Sperrrad wirken und die Zugfeder spannen. Das geschieht sehr effizient und sorgt für schnellen Aufbau der Gangreserve. Die Optik des Werks weiß zu gefallen, wenngleich die Schrauben nicht thermisch gebläut sind – dennoch hat dieses Werk einen Glasboden verdient. Hinzu kommen die robusten Gene aus der Schweiz, die auch in diesem Fall für ausgezeichnete Gangwerte sorgen. Die Testuhr der Vintro Le Mans 1952 erzielte beim Test auf der Zeitwaage Werte zwischen plus sechs und plus neun Sekunden, je nach Lage, und sehr hohen Amplituden zwischen 290 und 310 Grad. Da ich mehrere dieses Werke seit Jahren in meiner Sammlung habe, kann ich nur sagen: Die Werte sind auch nach Jahren bei dem Werk noch ausgezeichnet.
Die Blockdrücker lassen sich derweil hervorragend bedienen und zeigen deutlich, wieviel Spaß es machen kann, einen Chronograph einfach zu starten, zu stoppen und wieder nullzusetzen. Herrlich!
Zifferblatt: die 50er Jahre leben
Neben dem Uhrwerk ist es das Zifferblatt, das die Uhr in die 50er Jahre katapultiert. Besonders auffällig sind dabei die beiden Skalen – einmal eine Tachymeter-Skala zur Messung von Durchschnittsgeschwindigkeit, und eine eher selten anzutreffende Telemeter-Skala. Die Tachometer-Skala ist in Blau außen aufgedruckt, die Telemeter-Skala in Rot mittig des Zifferblattes. Tatsächlich entspricht das historischen Vorbildern. Mit dem Telemeter kann die Distanz zu einem lauten Schallereignis gemessen werden – wie beispielsweise ein Gewitter. Wird der Chronograph bei einem Blitz gestartet und beim Donner wieder gestoppt, kann die Distanz zum Gewitter auf der roten Skala abgelesen werden. Auffallend ist der scharfe und sehr feine Druck der dünnen Skalen, generell ist das Zifferblatt ein schöner Anblick. Die Indices und Zahlen sind appliziert, und auch das Vintro-Logo integriert sich wie bei einem historischen Original. Auch die Zeiger passen perfekt – optisch und technisch. Die Stoppsekunde ist schön lang, lässt sich perfekt ablesen, ebenso alle anderen Zeiger. Solchen Zeigerlängen wünsche ich mir öfter bei Uhren…..
Anders als echte Vintage-Uhren kommt die Le Mans 1952 mit einem zeitgemäßen Gehäusedurchmesser von 40 Millimetern bei einer Bauhöhe von 15 Millimetern. Das Deckglas ist ein entspiegeltes Saphirglas, beidseitig gewölbt und sauber eingepasst. Der Boden ist verschraubt und ebenso verglast, die Uhr ist wasserdicht bis 100 Meter.
Edelstahl in Hochglanz
Auch die Gehäusearchitektur folgt den 50er Jahren. Neben dem gewölbten Glas kommt eine schmale Lünette zu Einsatz, eine perfekt zu nutzende Krone und klassische Blockdrücker für den Chronographen. Das gesamte Gehäuse aus Edelstahl ist poliert, die Kanten sind gut bearbeitet und der Tragekomfort ist hervorragend. Geliefert wird die Uhr mit einem Lederband in Vintage-Optik mit Dornschließe, einem NATO-Strap und einem massiven Edelstahlband. Auch das Stahlband ist komplett poliert, was die komplette Uhr schon sehr auffällig macht. Es ist mit einer Faltschließe und Sicherheitsbügel ausgestattet, entspricht aber eher der Standardqualität. Die Glieder sind allerdings verschraubt, was das Kürzen mit einem passenden Schraubendreher einfach macht. Die Anstoßglieder sind massiv, sitzen jedoch nicht ganz sauber in den Bandhörnern des Gehäuses. Genauer gesagt: Es wackelt ein wenig, was vermutlich mit geringfügig dickeren Federstegen zu beheben wäre. In Anbetracht des Preises ist es dennoch ein überkomplettes Full-Set, zumal ein Wechselwerkzeug aus Aluminium ebenso wie Ersatzfederstege mitgeliefert werden.
Am besten sieht die Le Mans 1952 von Vintro derweil am Lederband aus – es macht die Uhr authentisch und komfortabel.
Watchthusiast-Fazit: Eine gelungene Re-Interpretation einer Uhr aus den 1950er Jahren im soliden Stahlgehäuse mit Saphirglas und einem üppigen Angebot an Bändern: Die Vintro Le Mans 1952 weiß zu gefallen, zumal das Seagull-Werk eher selten anzutreffen ist. Daher ist auch jede Scheu vor dem Werk unbegründet – schon in der Testuhr von Constantin Weisz stellte es unter Beweis, das es hervorragend läuft und auch Langzeitqualitäten mitbringt. Montiert wird die Uhr in Pforzheim, weshalb sie auch den Vermerk „Made in Germany“ trägt – hier wird auch der After-Sales-Service abgewickelt. Aktuell gibt es die Uhr noch zu Sonderkonditionen, nachdem die Kickstarter-Kampagne erfolgreich beendet wurde. Die Automatik-Variante kostet 479 Euro, später wird der Preis 599 Euro betragen. Eine Quarzvariante mit einem Mecaquarzwerk ist für 199 Euro zu haben.
Damit liegt die Automatic-Uhr preislich etwas über dem Microbrand-Standard, und ist dennoch der heißeste Kandidat für den Titel „Most Affordable Automatic Chronograph„!