Selten haben Uhren und Politik Berührungen – in diesem Fall muss ich aber vor der Review eine Frage klären: Kann eine Uhr politisch sein? Sie trägt einen roten Stern, die Beschriftung ist auf russisch, und diese Uhr ist auch „Made in Russia“. Muss ich dann die Review abbrechen und die Vostok Komandirskie Automatik 24-Stunden ausweisen?
Nein – das tue ich nicht, denn die Komandirskie ist viel zu interessant, zudem habe ich bereits zu Hochzeiten des „Kalten Krieges“ russische Uhren gesammelt. Die Uhr kann also nichts für Konflikte in der Welt – sondern ist eher ein faszinierendes Unikum mit Aha-Effekt. Das Zifferblatt nämlich trägt eine 24-Stunden-Anzeige und keinen normalen 12-Stunden-Zeiger. Der Stundenzeiger umläuft das Zifferblatt also nur einmal am Tag und gibt den Tag realistisch wieder. Gebaut werden die Uhren bei Vostok in Tschistopol, einer Stadt mit knapp 60.000 Einwohnern in der russischen Teilrepublik Tatarstan. Dorthin zog die Fabrik – gegründet 1942 als „Zweite Moskauer Uhrenfabrik“ in Moskau und wurde auf Befehl von Stalin aufgrund heranrückender Truppen der Deutschen Wehrmacht nach Tatarstan verlegt.
Der Name – Восток auf kyrillisch steht für die Worte Osten oder auch Orient – ist besonders durch die Truppenuhren der Roten Armee bekannt. Die Komandirskie wird seit 1962 hergestellt, die Wostok Amphibia mit einem Gehäuse aus Edelstahl seit 1968. Lange Jahre waren diese Uhren nur für Armeeangehörige verfügbar, mit dem Zerfall der UDSSR konnten auch Normalbürger diese Uhren kaufen. In Deutschland zählt Julian Kampmann zu den Importeuren der ersten Stunde, von dort stammt auch diese Testuhr, die ich im Rahmen einer „Blindverkostung“ ganz normal gekauft habe.
Gehäuse mit Details
Diese Komandirskie Automatik hat ein massives Gehäuse aus gebürstetem Edelstahl, der Durchmesser beträgt 42 Millimeter, die Bauhöhe stolze 15 Millimeter. Das Gehäuse folgt vom Design älteren Modellen aus dem Hause Wostok – tatsächlich hat sich kaum etwas verändert. Das Glas ist aus Kunststoff, die drehbare Lünette kennt keine Rasterung, die Krone ist zwar neu im Design, aber immer noch wackelig auf dem Tubus. Der Boden aus Edelstahl ist verschraubt, die Wasserdichte wird wie bei den Amphibia-Modellen mit 200 Metern angegeben. Viele der erst merkwürdig wirkenden Details machen technisch durchaus Sinn: Beginnen wir mit dem Glas. Es ist schlagfest und macht durch seine Dicke und Wölbung auch Tauchen in größeren Tiefen möglich. Die Krone wirkt zwar lose auf der Aufzugswelle, aber im verschraubten Zustand entkoppelt sie das Uhrwerk von Gehäuse und damit Stößen auf die Welle. Auch der Boden ist durchdacht: Das Mittelteil wird auf eine breite Gummidichtung gelegt, durch Nasen und Nute kann sich der Boden nicht verdrehen. Ein dünner Ring wird zum Verschrauben eingelegt und sichert das Gehäuse tatsächlich sehr gut ab.
Die drehbare Lünette trägt ein Inlay aus Plexiglas und verleiht der Uhr ein modernes Aussehen. Das Zifferblatt ist ebenso weiß, trägt Leuchtpunkte und ist mehrfarbig bedruckt. Die Verarbeitung ist aus einer anderen Zeit: Diese Uhr könnte auch aus den 1970er Jahren stammen. Dennoch, die Leuchtmasse leuchtet, alle Funktionen arbeiten gut: Braucht es mehr Uhr, oder etwa applizierte Indexe, um die Zeit lesen zu können? Das Datum ist auf sechs Uhr zu finden und lässt sich gut ablesen. Eine Schnellverstellung gibt es nicht, wer das Datum korrigieren will, dreht die Zeiger zwischen 20:30 und Mitternacht hin- und her. Im Gegenzug ist das Datum instant und schnappt von einer Sekunde zur anderen auf den nächsten Tag.
Uhrwerk & Gangwerte
Das Uhrwerk ist auch ein alter Bekannter: Das Vostok Automatik-Kaliber 2431.01 mit 31 Steinen, 19.800 Halbschwingungen/Std., zieht automatisch auf und gehört zu den Klassikern aus Russland. Es ist gegen Stöße gesichert, die Gangreserve liegt über 35 Stunden. Die Gangwerte sind dabei erstaunlich gut: Weniger als zehn Sekunden macht die Uhr auf 24 Stunden gut, selbst in den verschiedenen Lagen ist das Gangergebnis am Arm wie auch auf der elektronischen Zeitwaage sauber. Optisch ist das Kaliber keine Schönheit, zumal Details wie die Wechselräder mit einer einfachen Blechlasche als Halterung heute von niemandem mehr so konstruiert werden würden. Auf dem Stand der 1960er Jahre bringt das Werk aber Leistungen, die heute noch immer sehr gut mithalten können. Die Serviceintervalle sind zudem dehnbar – meist laufen Uhren von Wostok auch nach zehn Jahren noch einwandfrei. Schöne Details zu dieser Familie von Uhrwerken bietet die Website „Das Uhrwerksarchiv“.
Das Armband allerdings ist eine Enttäuschung – ein Edelstahlband, das massiv wirken soll, aber trotzdem nur gefaltet ist. Dementsprechend ist der Tragekomfort der einer Enthaarungskur am Unterarm. Ich nutze die Chance dieser Blindverkostung – denn weder Hersteller noch Deutschland-Importeur wussten von dem Schicksal der Uhr als Testobjekt –um ein Lederband in blau von einer auf Amazon erhältlichen Marke zu ersetzen. Wocci ist eine Firma aus China, die aber italienisches Leder verarbeitet und sehr hochwertige Uhrbänder für weniger als 30 Euro bietet. Das blaue Lederband, passend zur blauen Bedruckung des Blattes, passt hervorragend zur Uhr und wertet das gesamte auf.
Watchthusiast-Fazit:
Apropos Preis: 149 Euro kostet die Uhr bei Julian Kampmann. Das ist ein Kampfpreis für eine solide Uhr aus Stahl mit einem Automatikwerk, die zudem noch einen gewissen Kultstatus genießt. Hinzu kommt das Stutzen mancher Zeitgenossen, die beim schnellen Blick auf die Uhr von der Zeigerstellung abgelenkt sind. Kleiner Tipp: Die Mittagszeit ist ideal, um für Verwirrung zu sorgen. Die Verarbeitung jedenfalls ist der Preisklasse angemessen, und zu einer Wostok gehört etwas Urtümlichkeit wie der Smoking zu James Bond.
Und trotz aller politischen Irrungen und Wirrungen hoffe ich, dass diese Uhren nie ihren Stellenwert bei Sammlern und Uhrenträgern verlieren werden: Dazu sind die Tschistopol-Uhren nämlich zu gut.