1930 setzte sich die Armbanduhr langsam gegen die Taschenuhr durch – die größten Feinde waren jedoch Staub, Wasser und Erschütterungen. Uhrgläser bestanden aus Zelluloid oder Kristallglas – ersteres war zwar schlagfest, doch nahm es nach wenigen Jahren bereits eine stark gelbliche Färbung an. Kristallglas hingegen zerbrach bei kleinen Stößen und Schlägen sofort. Besonders leidvoll mussten das Sportler erleben, die im Wettkampf manches Uhrglas auf dem Spielfeld liessen. Manch Hersteller baute also ein Gitter vor das Uhrglas, was weder ästethisch noch hygienisch war.
Von diesem Dilemma erfährt der Schweizer César de Trey. Der Kaufmann aus Lausanne hatte den Großteil seines Vermögens im Handel mit Goldzähnen gemacht und verkaufte gelegentlich auch Uhren der führenden Schweizer Manufakturen. Als Sammler war de Trey den Zeitmessern schon lange verfallen. Während einer Reise über den indischen Subkontinent schaut sich der Geschäftsmann ein Polospiel an – der britische Sport erlebte damals in sämtlichen Kronkolonien eine Blüte. Etliche der spielenden englischen Kolonialoffiziere tragen Armbanduhren, doch nicht alle überleben das Match unbeschadet. Die zersplitterten Uhrgläser hinterlassen Eindruck bei dem geschäftstüchtigen Schweizer.
März 1931: Die Reverso wird patentiert
Zurück in der Schweiz bespricht der Dentalwaren-Händler César de Trey die Problematik mit seinem langjährigen Freund und Geschäftspartner Jacques-David LeCoultre. Seit 1900 leitet der Uhrmacher die Herstellung der Manufaktur LeCoultre, seit 1906 ist er Generaldirektor. Seit 1907 arbeitete die Schweizer Werkemanufaktur mit dem Pariser Edmond Jaeger zusammen, der sich durch etliche Renommierstücke bereits einen Namen gemacht hatte. Die weltweit flachste Taschenuhr mit dem LeCoultre-Kaliber 145 war eine davon – mit 1,38 Millimetern war das Werk so hoch wie knapp zwei Streichhölzer. Jaeger brachte den Ingenieur Rene-Alfred Chauvot mit in das Team, er konstruierte ein Gehäuse, bei dem der Conatiner um das Werk beweglich in einemRahmen gelagert ist.
Die Reverso besteht bis heute aus zwei Teilen: eine Bodenplatte mit den Bandanstößen, während der Korpus der Uhr mit dem Uhrwerk als autarke Kapsel schwenkbar gelagert ist. Ein ausgeklügelter Mechanismus mit kleinen Stahlkugeln sorgt dafür, das der Korpus jeweils sicher in eine Nut einrastet und nicht aus Versehen umklappt. Das Prinzip der Wendeuhr ist geboren. In der ursprünglichen Patentschrift ist die Uhr quadratisch, was später hingegen für die Produktion in ein rechteckiges Gehäuse verändert wird. Jaeger, LeCoultre und de Trey kaufen das Konzept für 10.000 Franken von Chauvot. Zudem erhält der Konstrukteur einen Betrag von 2,50 Franken für jede verkaufte Uhr. Die Formensprache der Uhr folgt dem Art déco, den „verzierenden Künsten“. Die Epoche mit ihren Formen ohne präzises Grundmuster verstand die gestalterische Verbindung von formaler Eleganz mit edlen Materialien und einer ausgeprägten Sinnlichkeit. Bei welchem Produkt ließe sich das besser anwenden als bei einer Armbanduhr, die den Weg zum Klassiker nehmen soll.
Outsourcing: die ersten Reverso
Der Name für die Besonderheit ist schnell gefunden: Reverso, die lateinische Version für „dreh mich“. Die drei Unternehmer hoffen, bereits im Jahr 1931 mit der Uhr auf den Markt gehen zu können – doch unerwartete Probleme blockieren das Projekt beinahe. Nicht nur das Design hatten Jaeger, LeCoultre und de Tray auslagern müssen, auch die Produktion scheint nicht in einem der eigenen Häuser stattfinden zu können. Das Gehäuse ist zu kompliziert für die Gehäusewerkstatt von Jaeger in Paris. Der Auftrag geht an die Firma A & E Wenger. Auch LeCoultre hat zunächst Probleme mit der Uhr, denn keiner der in der Fabrik gefertigten Uhrwerke passt in das durch den Wendemechanismus knapp geschnittene Gehäuse. Zunächst werden Werke des Kalibers 064 der Tavannes Watch Co. aus dem gleichnamigen Ort im Berner Jura eingesetzt. Der Zusammenbau der Reverso findet in Le Sentier in den Werkstätten von LeCoultre statt. Erst im Frühjahr 1933 kann LeCoultre die Lücke schließen und präsentiert das Kaliber 11, das mit 15 Steinen, 18.000 Halbschwingungen pro Stunden und 50 Stunden Gangreserve die Tavannes-Werke ersetzen kann. Solche Erstzeit-Uhren sind meist auf dem Zifferblatt weder mit Jaeger noch LeCoultre gemarkt. Schlicht Reverso steht auf dem Zifferblatt der Uhr, die mit 37 Millimetern Länge und 23 Millimetern Breite an jedes Handgelenk passt. Knapp acht Millimeter Höhe trotz des Wendemechanismus lassen die Uhr flach wirken. Solche Modelle in Originalzustand sind gesucht – Preise oberhalb von 10.000 Euro werden häufig aufgerufen. Ein Feind bleib der Uhr zudem lande erhalten: Feuchtigkeit. Die gerade bei sportlichen Wettkämpfen verwendeten Modelle erlitten oft durch Schweiß oder andere Feuchtigkeit Zifferblattschäden. Wirklich originale Blätter sind so selten geworden, umso öfter sind jedoch Uhren aus den ersten Baujahren im Umlauf, die bereits zu Unrecht den Aufdruck „Jaeger-LeCoultre“ tragen. Der finale Zusammenschluss beider Unternehmen fand jedoch erst 1937 statt, daher resultieren diese Modelle aus Aufbereitungen und Zifferblattrestaurierungen. Kein Hinweis auf eine Fälschung sind indes Uhren mit Zifferblattmarkierungen der damals bekannten Juweliere. Cartier, Gübelin, Türler: Sie alle ließen die Reverso für sich fertigen und verkauften die einmalige Uhr unter dem eigenen Namen. Auch hier liegen die Preise je nach Zustand zwischen 2.000 und weit über 10.000 Euro. Auch andere Uhrenmarken mit immensem Prestige wie Patek Philippe, Favre-Leuba oder Hamilton nutzten die Reverso – aufgrund des Patentschutzes, der bis 1951 lief, war ein Nachbau undenkbar. So fertigte LeCoultre auch für diese Marken. Solche Uhren sind nahezu unbezahlbar, denn nur eine Handvoll hat international überlebt. Authentische und gepflegte Exemplare erzielen wie stets die höchsten Preise – auch in internationalen Auktionen sind die Uhren heute trotz der kleinen Größe durchaus gefragt. Etliche Uhren tragen den Zusatz Staybrite – dem Hersteller des Gehäusematerials, sofern Edelstahl gewählt wurde. Neben den Herren kommen auch die Damen in den Genuss der Reverso, meist an einem Seidenrips-Band getragen und in Gold ausgeführt. Solche Modelle werden meist ebenfalls für mindestens mittlere vierstellige Beträge verkauft.
Indien war dabei einer der wichtigsten Erstmärkte: Für 500 Franken im Goldgehäuse brachte César de Trey die Uhren dort auf den Markt, die sich schnell großer Beliebtheit erfreuten. Schnell wurde zudem klar, dass die Uhr eine ungewöhnliche Chance zur Individualisierbarkeit gab. Jagatjit Singh Bahadur – seit 1877 bis zu seinem Tod 1949 Maharadscha von Kapurthala – hielt große Stücke auf die französische Kultur. Sein Palast war dem Schloss von Versailles nachempfunden, wenig überraschend zierte eine Reverso sein Handgelenk. Auf der Rückseite der Uhr ließ er in Emaille das Abbild seiner Frau, der Maharani, anbringen. Mit seinem Konterfei ließ er weitere 50 Uhren versehen, die an wichtige Gäste verschenkt wurden. Erst später machte auch der Hersteller in der Schweiz daraus ein Zusatzgeschäft: Bis heute können Wappen, Initialen oder andere Wunschmotive in die sonst schmucklose Rückseite graviert werden. Auch mit Edelsteinbesatz oder anderen individuellen Verzierungen sind kaum Grenzen zu erreichen bei der Schaffung eines einmaligen Kunstwerkes.
Die Reverso nach dem Krieg
Der zweite Weltkrieg ändert die Welt, und auch der Geschmack geht mit der Zeit. Mehr denn je sind runde Uhren gefragt, die Geschichte der Reverso scheint besiegelt. Auch die Exportrestriktionen tuen ein Übriges. Schnell entscheidet sich der Gehäusehersteller Wenger, die Lieferungen an LeCoultre einzustellen. Anfang der 50er Jahre verschrottet das Unternehmen sogar die Werkzeuge zur Herstellung der Wendegehäuse. LeCoultre bietet die Uhr weiter an, doch die geringe Nachfrage kann aus dem vorhandenen Lagerbestand gedeckt werden. Art déco scheint dem Untergang geweiht – und tatsächlich dauert es noch bis in die 70er Jahre, ehe sich das in großem Maßstab ändern wird. Tatsächlich liegen noch etwas 200 Gehäuse in der Schweiz auf Lager, als der Mailänder Kaufmann Giorgio Corvo eine Idee hat. Er möchte die Reverso zum Lifestyle-Produkt machen, und bestellt 200 Uhren bei Jaeger-LeCoultre. Eckige Uhren wurden in Italien schnell zum Trend, und in der Mailänder Orologeria Fiumi geben sich schnell prominente Uhrenkäufer die Klinke in die Hand. Alle wollen eine Reverso – Giovanni Agnelli, Enzo Ferrari oder Gianni Versace sind nur einige der Persönlichkeiten. Parallel entwickelte sich in den 70er Jahren die Ära quarzgetriebener Uhren – und dieser Mode folgend nahm auch Jaeger-LeCoultre solche Uhren in das Programm auf. Heute bilden diese Modelle den preiswerten Einstieg in die Welt der Reverso – ab 1.500 Euro sind die Modelle mit Batterie über die gängigen Kaufquellen wie Chrono24 zu haben. Eines haben die neuen Modelle fast alle gemein: Mit wasserdichten Gehäusen trotzen sie den Elementen wesentlich besser. Mit der Reverso Gran Sport gewinnt die Uhr an Gewicht und Sportlichkeit – am Kautschukband wird der Klassiker zum modernen Jungspund. Außergewöhnliche Wertstabilität zeichnet die Modelle aus der jüngsten Vergangenheit aus. Eine Besonderheit stellt die Reverso mit Gyrotourbillon dar: Aus mehr als 300 Einzelteilen besteht das Uhrwerk mit Wirbelwind, hochkomplex ist der Mechanismus aufgebaut. Das Modell mit einer Limitierung auf 75 Uhren ist selten – und teuer. Bis zu 300.000 Euro kann die Uhr auf Versteigerungen oder bei hochklassigen Juwelieren kosten, doch nur selten wechseln sie auch wirklich den Besitzer. Meist liegen diese Uhren als Wertanlage in Tresoren. Die Entwicklung zeigt zumindest deutlich den Sprung von einer bedarfsgerecht konstruierten Uhr zu einer Stilikone, die nun fast ein ganzes Jahrhundert in nur wenig veränderter Urform weiter zu kaufen ist. Die Jaeger-LeCoultre Reverso ist DIE Wendeuhr, und wird es immer sein.